Was Alex Agten mit seiner leeren Arztpraxis macht - Pomona Online vom 15.05.2022
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Was Alex Agten mit seiner leeren Arztpraxis macht
In einem Lokal in Fiesch gibt es allerhand Kurioses und Kunstvolles zu sehen. Doch lebendig werden die Gegenstände erst, wenn Alex Agten Geschichten über sie erzählt.
In Fiesch steht eine Arztpraxis leer. Was macht man damit? Diese Frage stellte sich dem pensionierten Hausarzt Alex Agten. Am Eingang der Praxis steht jetzt ein schlichtes Holzschild mit der Aufschrift «Museum». Was sich im Innern seiner ehemaligen Arztpraxis verbirgt, ist nicht ein Heimatmuseum, wie es jeder kennt. Alex Agten hat viele Ausstellungsstücke zusammengetragen. Doch lebendig werden die erst durch seine Geschichten. Und wenn Alex Agten zu erzählen beginnt, vergisst man die Zeit.
Alex Agten, 73, ist in Grengiols aufgewachsen – eine Kindheit zwischen einem bäuerlichen Betrieb, der Sägerei des Vaters und der Grengjer Tulpenzucht seiner Mutter. Viele Exponate stammen aus dieser versunkenen Welt. In einer Ecke des Museums steht ein hölzerner Schulthek. Alex Agten erinnert sich, wie er seine Schultasche oder besser gesagt Schulkiste mit Skiwachs behandelte und damit auf dem Heimweg die steile Dorfgasse hinunterschlittelte. «Manchmal lagen nach einem Sturz die Schulbücher über den ganzen Weg im Schnee verteilt», sagt Alex Agten.
In Agtens Museum gibt es allerhand Kuriositäten zu entdecken. Eine «Fuchskanone» etwa, die sein Vater erfand. «Sobald der Fuchs an der Maus zog, erschoss er sich selbst», erklärt er die Funktionsweise. Das sei allemal besser gewesen, als die Füchse mit Fangeisen leiden zu lassen. An der Wand hängt das Geweih des bekannten 24-Ender-Hirsches Harry, der 2006 bei Bitsch überfahren wurde. Er schmunzelt, als er den fragenden Blick sieht. Wurde Harrys Geweih doch nicht nach Sitten, in die Räumlichkeiten der Dienststelle für Jagd, Fischerei und Wildtiere gebracht? «Schauen Sie genauer hin. Ich habe Harrys Geweih mit Armierungseisen und Gips nachgebaut. Ein Gommer Hirsch gehört schliesslich ins Goms.»
Weitere Werke zeugen von Alex Agtens handwerklichem und künstlerischem Geschick. So warten bleiverglaste Kapellenfenster darauf, im Sommer in der Kapelle auf der Tunetschalp eingepasst zu werden. Drei Meter hoch ist das farbige Fenster mit der Abbildung von Mariä Himmelfahrt. Das Schweissen und das Bleiverglasen habe ihm sein Schwiegervater beigebracht. Als Huf- und Wagenschmied beherrschte er diese heiklen Techniken. Wie man mit Holz umgehe, habe er von seinem Vater gelernt. Sogar das grosse Sonnenrad des Grengjer Sunnetreelleta-Brauchs stammt aus Agtens Werkstatt.
Viele der ausgestellten Gemälde entstanden unter Agtens Pinselstrichen. Zu jedem weiss er eine Geschichte zu erzählen. Szenen aus dem Grengjer Dorfleben oder Landschaften sind zu sehen. Je länger man sich in Agtens Museum umsieht, umso mehr fragt man sich, wie jemand neben einem anspruchsvollen Beruf noch so viel schaffen konnte. «Das handwerkliche und künstlerische Arbeiten war meine Ablenkung und hat mich entlastet», sagt Alex Agten. So habe er den Kopf frei bekommen von seiner Arbeit als Arzt.
1983 eröffnete Alex Agten in der ehemaligen Schlosserei seines Schwiegervaters eine Hausarztpraxis. «Ich wurde Arzt, obwohl mir beim «Häfelipraktikum» als Zuschauer gleich bei der ersten Operation furchtbar schlecht wurde. Das habe sich dann später gelegt. Alex Agten erinnert sich an seine Ausbildungsjahre nach dem Studium in Freiburg, Bern und Chicago: «Bei meinem ersten Praktikum bei Dr. Bernhard Volken in Fiesch durfte ich schon nach kurzer Zeit alle Hausbesuche und auch Wochenenddienste übernehmen.» Da habe er sich manchmal schon gefragt, ob er das könne. «An einem Wochenende verarztete und gipste ich zusammen mit einer erfahrenen Arzthelferin sieben Beinbrüche. Da wusste ich: Das geht schon», sagt Alex Agten.
Verliebt hatte sich Alex Agten in Erna Russi. Sie war Oberschwester und Operationsschwester im Spital in Brig. «Ohne meine Frau und die tüchtigen Praxisassistentinnen hätte ich meine Arbeit als Allgemeinmediziner in Fiesch nicht bewältigen können.» Denn die damaligen Verhältnisse waren ganz anders. In Fiesch gab es in den 1980er-Jahren weder eine Apotheke noch einen Zahnarzt. So richtete Agten bei der Arztpraxis auch eine Apotheke ein und bediente sie zusammen mit den Angestellten der Praxis. Er zog sogar Zähne. Später, als ein Zahnarzt ins Dorf kam, sprach sich herum, dass das Zähneziehen beim Zahnarzt kostenpflichtig sei, bei Dr. Agten hingegen übernehme das die Krankenkasse. «Ich habe dann damit aufgehört und alle zum Zahnarzt geschickt.»
Neben der Arbeit als Hausarzt war Alex Agten an mindestens 150 Tagen im Jahr von Grengiols bis zum Furkapass Tag und Nacht für Notfälle verantwortlich. Er musste rund um die Uhr erreichbar sein. «Mein Haustelefon wies ein 20 Meter langes Kabel auf. So konnte ich mich wenigstens im Garten aufhalten. Ansonsten durfte ich mich nicht ausser Reichweite des Telefons begeben.» Später hat Alex Agten eine Funkantenne installiert und konnte so mit Ärzten, Feuerwehr und Polizei Kontakt aufnehmen. Nur einmal habe er den Funk zu einem anderen Zweck gebraucht. «Ich gratulierte meinem Bruder, der an seinem Geburtstag das Finsteraarhorn bestieg, über Funk zum Geburtstag.» Wegen missbräuchlicher Nutzung wurde ihm dafür eine Busse aufgebrummt. «Das erste Natel in den 1990er-Jahren war dann eine riesige Erleichterung», sagt Alex Agten.
Ablenkung fand er auch beim Singen im Kirchenchor. «Das war aber nur möglich, weil meine Frau während der Proben zu Hause das Telefon hütete.» 2016 ging Alex Agten in den Ruhestand. Er hatte eine Nachfolgerin gefunden. Doch ein paar Jahre später zog sie in neue Praxisräumlichkeiten. Dann stand die Praxis leer. Es habe schon Interessenten gegeben, aber wenn ein Arzt zum ersten Gespräch einen Betriebsökonomen mitbringe und gleich nach dem Umsatz frage, sei für ihn klar: «Der ist hier am falschen Ort.»
Das Museum wollte Alex Agten eigentlich schon vor zwei Jahren eröffnen. Dann kam Corona. Jetzt ist er bereit. Er möchte die Ausstellung regelmässig erneuern und neue Themen vorstellen. In der aktuellen Ausstellung ist ein ganzes Zimmer den Grengjer Tulpen gewidmet. «Auf dem grossen Bild ist meine Mutter mit ihren Tulpen frei nach Van Gogh zu sehen», scherzt er. Von Kunst mag er jedoch nicht sprechen: «Ich mache Bastelkunst, Bast Art.»
Alex Agten kann sich vorstellen, weitere Ausstellungen zu Themen wie Buchmalerei, Wald und Holz, Berg und Lawinen, Alpwesen früher und heute, alte Wörter, Vogelkunde oder Orgeln im Goms anzubieten. Zu all diesen Fachbereichen hat sich Alex Agten mehr als nur oberflächliches Wissen angeeignet. «Ich mache auch Dorfführungen. Mein Museum könnte ein Schlechtwetterprogramm für Gäste sein.» Wer das Museum besuchen will, kann sich bei ihm melden. Für zwei bis acht Personen sei er gerne bereit, einen Einblick zu gewähren. Der Eintritt ist kostenlos. Nur eines braucht es: Zeit, um sich auf die Geschichten rund um die Objekte einzulassen.
Quelle: Pomona Media