«Verbockst du es, darfst du dich im Dorf nicht mehr blicken lassen» - Pomona Online vom 04.12.2022

04.12.2022

60 Jahre Nachttrichjer

«Verbockst du es, darfst du dich im Dorf nicht mehr blicken lassen»

Benjamin Albrecht ist einer von zwei Hauptmännern der Nachttrichjer Fiesch-Fieschertal. Er führt am Montag zum Jubiläum 120 Männer durch die beiden Dörfer. Die Anspannung ist gross.

 

Das wird ein ganz grosses Fest. Am Montag steht in Fiesch-Fieschertal das 60. Nachttrichjen an. 120 Männer werden mit ihren Kuhglocken durch die beiden Dörfer marschieren und die bösen Geister vertreiben, bevor der Santiglais kommt. So will es der beliebte Brauch. Viele Augen werden auf Benjamin Albrecht (34) blicken.

Albrecht ist einer von zwei Hauptmännern der Nachttrichjer und als Fiescher traditionell ihr Präsident. Er führt die laute Prozession an. Er gibt den Takt vor und kontrolliert die Schritte der Nachttrichjer. Er begrüsst lautstark die Leute an den Strassen und in den Restaurants. Er schaut, dass die Truppe den auf die Minute getakteten Marschplan einhält. Alles hört auf sein Kommando.

Albrecht ist ein waschechter Fiescher. Schon als kleines Kind hängt er sich wie viele andere in seinem Alter immer am 5. Dezember eine kleine Glocke um die Hüfte und verfolgt das Treiben der Grossen. Mit 18 Jahren – früher darf man nicht – tritt er dem Verein bei, der eigentlich gar keiner ist.

Jeder gebürtige Fiescher und Fieschertaler kann ab seinem 18. Lebensjahr den Nachttrichjern beitreten. Für viele in den beiden Dörfern ist das Mitmachen an der Prozession selbstverständlich. Auch Zugezogene marschieren mit. Die Teilnahmebedingungen sind einfach und unmissverständlich.

Schwarze Schuhe und Hose, ein weisses Hemd, eine goldene Mütze und natürlich die Kuhglocke gehören zum Erscheinungsbild. Einige haben sich eine Kuhglocke selbst gekauft, was bis zu 1500 Franken kosten kann. Andere leihen sich eine Kuhglocke von einem Bauern aus. Einen Mitgliederbeitrag kennen die Nachttrichjer nicht.

Wer drei Jahre tadellos mitmacht, steigt zum Gefreiten auf. Wer fünf Jahre fehlerfrei mitmarschiert, darf sich Obertrichjer nennen. Wer nicht imstande ist, im Takt zu marschieren oder schlecht gekleidet erscheint, muss beim grossen Defilee auf dem Fiescher Dorfplatz vor den Augen ganz vieler Zuschauer zum Straftrichjen antreten. Diesen Soloauftritt will eigentlich keiner, und er kommt selten vor.

Albrecht ist seit neun Jahren Hauptmann der Nachttrichjer Fiesch-Fieschertal. Der zweite Hauptmann ist traditionsgemäss ein Fieschertaler. Das Amt des Fähnrichs übernimmt jährlich und abwechslungsweise ein Teilnehmer aus den beiden Dörfern.

Albrecht ist mit viel Herzblut bei der Sache. Er sagt: «Dieses Amt ist für mich eine grosse Ehre.»

Albrecht war in den ersten Jahren als Hauptmann extrem nervös, wie er sagt. Das Kribbeln spürte er schon Monate vor dem 5. Dezember. Schliesslich ist Albrecht nicht nur für Recht und Ordnung bei seinen Nachttrichjern zuständig. Er muss auf dem Rundkurs auch unzählige Bewohner von Fiesch mit ihrem Namen begrüssen. Er erteilt seine Kommandos beim Defilee auf dem Fiescher Dorfplatz vor Hunderten Zuschauern. Angespannt ist Albrecht noch immer. Er sagt mit einem Augenzwinkern: «Verbockst du es, darfst du dich im Dorf nicht mehr blicken lassen.»

Das Nachttrichjen in Fiesch und Fieschertal läuft immer gleich ab. Der Marschplan gibt exakt vor, wann die Truppe an welchen Standorten hält. Vielerorts zaubern die Nachttrichjer den Leuten mit ihrem Auftritt ein Lächeln auf das Gesicht. Doch es kann auch emotional werden. Dann etwa, wenn die Truppe im Altersheim in Fiesch auftritt. Albrecht sagt: «Die Bewohner freuen sich riesig. Einige haben Tränen in den Augen. Das berührt mich sehr.»

Zu den Gründern der Nachttrichjer zählte eine Gruppe von Männern rund um Adolf Stucky, der momentan in Glis wohnt.

Hat Albrecht in Fiesch das Zepter in der Hand, übernimmt in Fieschertal der zweite Hauptmann, Fabian Zurgilgen, das Kommando. Das Nachttrichjen lässt die beiden Dörfer zumindest einmal im Jahr ganz nahe zusammenrücken. Der Brauch des Nachttrichjen wird auch in anderen Gommer Dörfern aktiv gelebt. Doch jener in Fiesch und Fieschertal gilt als der grösste.

Viele gebürtige Fiescher und Fieschertaler, die mit den Jahren weggezogen sind, kehren extra für das Nachttrichjen zurück in ihre alte Heimat. Albrecht sagt für sein Dorf: «Du siehst an keinem Tag im Jahr mehr Fiescher im Dorf als beim Nachttrichjen.» Er weiss den Brauch zu schätzen, bezeichnet den fünften Dezember als einen der schönsten Tage für viele Fiescher und Fieschertaler. Albrecht ist auch überzeugt: «Vor allem in der heutigen turbulenten Zeit ist es wichtig, Traditionen zu pflegen.»

An normalen Jahren zählt die Truppe zwischen 60 und 70 Nachttrichjer. Für das 60-Jahr-Jubiläum am Montag rechnet Hauptmann Albrecht mit bis zu 120 Teilnehmern. Albrecht freut sich darauf, viele ältere Alttrichjer, Althauptmänner und Altfähnriche am Marsch wieder zu begrüssen. Sie alle werden im Fiescher Feriendorf bis weit in den sechsten Dezember hinein ihren Auftritt gebührend feiern.

Albrecht will sein Amt als Hauptmann im nächsten Jahr an einen würdigen Nachfolger weitergeben. Er wird dann zehn Jahre im Amt sein und sieht die Zeit reif für eine Stabübergabe an einen jüngeren Nachttrichjer. Albrecht sagt: «Ab dann laufe ich wieder wie ein Schaf hinterher.»

So läuft das 60. Nachttrichjen Fiesch-Fieschertal am 5. Dezember ab

Nachttrichjer

  • 16.45 Uhr Brücke
  • 17.00 Uhr Altersheim
  • 17.30 Uhr Milimatta, Fieschertal
  • 17.45 Uhr Gemeinde Fieschertal
  • 18.30 Uhr Schulhaus Fiesch
  • 20.15 Uhr Café Bäckerei Imwinkelried

Alttrichjer (ab Jahrgang 1985)

  • 16.45 Uhr Brücke
  • 17.00 Uhr Altersheim
  • 17.30 Uhr Milimatta, Fieschertal
  • 17.45 Uhr Gemeinde Fieschertal
  • 18.30 Uhr Hotel Alpenblick
  • 19.30 Uhr Schulhaus Fiesch
  • 20.10 Uhr Bar-Lounge Talstation

21.02 Uhr Defilee auf dem Dorfplatz Fiesch

21.45 Uhr Bar-Lounge Talstation (Nachttrichjer) / 21.45 Uhr Hotel des Alpes (Alttrichjer)

23.00 Uhr Tanz im Feriendorf Fiesch

24.00 Uhr Austrichjen im Feriendorf Fiesch

Quelle: Pomona Online

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