Das Leben machte Odile Schuler-Volken zu einer Fernwanderin. Hier erzählt sie ihre Geschichte. - Pomona Online vom 02.07.2022

02.07.2022

1000 Kilometer und mehr

Das Leben machte Odile Schuler-Volken zu einer Fernwanderin. Hier erzählt sie ihre Geschichte.

Wandern ist in. Eine 76-jährige Fiescherin aber läuft wochenlang. Wieso macht sie das und was macht das mit ihr?

Am vierten Tag der Woche gehts immer wieder von Neuem los. Dann machen sich ein paar Frauen jeweils auf die Socken. Odile Schuler-Volken nennt sie die Donnerstag-Frauen. Sie alle sind zwischen 74 und 82 Jahren und wandern zusammen. Zuletzt ging es nach Solothurn, diesmal wars zwar eher ein Ausflug, aber auch gut. Die Vorschläge kommen aus der Gruppe, oft von Schuler-Volken, die seit nunmehr 14 Jahren mitläuft.

Die Wanderungen sind vergnügliche Termine, gemessen daran jedoch, was Schuler-Volken ansonsten unter die Füsse nimmt, sind das nicht einmal nette Spaziergänge. Die mittlerweile 76-jährige Fiescherin ist seit vielen Jahren Fernwanderin, manche sagen Weitwanderin. Manchmal sind es 1000 Kilometer und mehr. Im letzten Jahr lief sie von Disentis nach Lausanne, das nächste Projekt steht auch schon, zumindest im Kopf. Es wird 2023 nach Rom gehen. 

Sie wird dann wieder ihren Rucksack schultern, meistens 12 kg schwer, und die schweren Schuhe anschnallen, weil sie darin besser läuft als in leichteren. Zwölf Kilogramm mag etwas viel sein, aber sie will mithaben, was sie mithaben will auf so einer Odyssee.

Was treibt einen Menschen an, derart weit zu laufen? Was für eine Lebensgeschichte hat Schuler-Volken zu den Ewigwanderungen getrieben? Und vor allem: Was geschieht mit ihr unterwegs?

Odile Schuler-Volken hat sich herausgeputzt, als wir bei ihr läuten. Sie hat eine Karte von Portugal und Spanien an der Wand hängen, eine Region, wo sie oft am Wandern ist. Es gibt viele Bastelsachen oder Bilder mit einem ihrer vier Enkelkinder drauf, und es fällt auf, dass alle Türen offen stehen, selbst die zur Toilette und zum Badezimmer. Später wird sie sagen, obwohl es hell ist in ihrer Wohnung, sie brauche die Weite, sie wolle kein Affe im Gefängnis sein.

Sie redet viel, man muss sie stoppen, sie lässt sich stoppen, sie wirkt stark und kämpferisch, je länger das vierstündige Gespräch aber dauert, desto mehr kriegt man das Gefühl, dass die Fassade Risse kriegt, dass sie auch ein zweifelnder Mensch ist, vielleicht sogar ein hadernder. Sie spricht über Erwartungen von ihrer Mutter, die sie wahrgenommen habe, sie redet von der Scheidung, sie sagt, sie sei eine Frau gewesen, die zur falschen Zeit am falschen Ort gestanden habe. Sie hatte das politisch gemeint. Sie sagt über sich, sie sei nirgends schlecht, aber auch nirgends eine Leuchte wie andere, was sie gern wäre. Das sagt sie sogar mehrmals in ähnlichen Worten ausgedrückt.

Ja, sie redet sogar von Versagen. Das Wort hört sich hart an, irgendwie zu hart, aber sie braucht es tatsächlich und zwischendurch stockt ihr mehrmals die Stimme. Man denkt, derart offen kann bloss jemand reden, der irgendwie über der Sache steht. Dorthin muss man aber erst mal gelangen. Irgendwie.

Ihr Leben sollte man ein wenig kennen, um das Fernwandern etwas besser zu begreifen.

Zur Politik stiess sie nach einem Schicksal in der Familie. Ihr Onkel, der Bruder der Mutter, hatte im Stollen eine Staublunge bekommen, er konnte die Miete nicht mehr bezahlen und lebte dadurch bei ihrer Familie. Es kam mit dem Unfallversicherer zu einem Prozess, die Anwälte der Familie gewannen doch noch, der Onkel war inzwischen jedoch tot, gestorben mit 36 Jahren. Odile Schuler-Volken war zu jenem Zeitpunkt gerade mal zwölf.

Die kleinen Leute, die Arbeiterschaft habe man klein halten wollen, sagt sie heute. Das Erlebte, das Gefühl gegen Ungerechtigkeit habe sie geprägt, eher linke Themen also. Da es im Goms aber unmöglich war, einer SP beizutreten, waren die Gelben ihre Partei. Sie sitzt heute noch im Vorstand der CSPO 60+.

Schuler-Volken war Vizepräsidentin der Partei, sie wollte Grossrätin werden, wurde es aber nicht, sie stand auf einer Nationalratsliste, wurde aber keine Nationalrätin. An der Versammlung in Ulrichen, wo es um die Listenbesetzung ging, stand ein älterer Herr auf und sagte zu ihr: «Sie sind schon recht, aber wenn wir im Goms nur drei Grossratsplätze haben, können wir nicht einen einer Frau geben.» Er hätte auch sagen können: «Wir wollen keinen Sitz opfern, mit einer Frau verlieren wir ja sowieso.»

Schuler-Volken erzählt an ihrem Tisch zu Hause, diesen Satz habe sie immer wieder zu spüren bekommen, manchmal offen, manchmal subtil, auch die Kirche habe der Frau ja bloss eine Helferrolle zugesprochen. Dem Bischof sagte sie mal direkt ins Gesicht, dass das Zölibat schlecht sei. Sie kann ungemütlich sein, sie drückte Sachen aus, die man besser nicht sagen sollte. Sie meint, sie sei halt so, wie sie sei. Einer, der sie kennt, meint, sie sei eine Draufgängerin, die ihre Meinung nicht für sich behalte, mit allen Vor- und Nachteilen.

Sie war jedenfalls keine Wanderin, bloss ihrem damaligen Mann und ihrer Familie zuliebe sei sie früher länger gelaufen. Es war ein Müssen. Als die anderen zu ihr zurückschauten und fragten, ob es gehe, sagte sie bloss, jaja, es geht schon, und lief einfach weiter, Schritt für Schritt.

Der Tag, als ihr Vater starb

Odile Schuler-Volken betrieb 30 Jahre lang das Hotel-Restaurant Schmitta in Fiesch, sie hatte es aufgebaut, ihr Vater strich Raclettes. Sie sagt, sie sei eine gute Gastgeberin gewesen, aber keine gute Wirtschaftsfrau. Zuerst starb die Mutter, dann spitzte sich die Ehekrise zu, bis es zur Trennung kam. Wären sie früher auseinandergegangen, wäre das für beide besser gewesen, meint sie jetzt. Die Scheidung sei in einem halben Jahr vorbei gewesen.

Ihr früherer Ehemann lebt heute wie sie in Fiesch. Zu Weihnachten lädt sie ihn an den Tisch mit Kindern und Enkelkindern ein, viel mehr aber nicht. Sie hatte mit ihrem Mann früher, als noch alles in Ordnung war, abgemacht, nach der Pension vom Bodensee an die Adria zu wandern. Das ging jetzt nicht mehr.

Und dann kam der Tag, an dem ihr Vater im Altersheim starb.

Odile Schuler-Volken hing stark an ihm, das spürt man sofort, wenn sie darüber redet. Sie hatte sich gegenüber den Eltern, gerade gegenüber dem Vater verpflichtet gefühlt, für ihn da zu sein, ohne dass es jemalswehgetan hätte, sagt sie. Sie gibt zu, sie hätte nach ihrer Scheidung nie eine neue Partnerschaft eingehen können, die sie von zu Hause weggebracht hätte.

Odile Schuler-Volken ist ein Einzelkind. Hätte sie Geschwister gehabt, sie wäre wohl nicht aus dem Ausland zurückgekehrt. Sie war in England als Au-pair, sie war zwei Jahre in Genua als Krankenpflegerin gewesen. Heute reist sie mit ihrer ältesten Enkelin oft nach Santa Margherita Ligure bei Genua, um in der schönen Vergangenheit zu schwelgen.

Noch in derselben Nacht, als ihr Vater verstarb, traf sie einen Entscheid: fernwandern.

Vielleicht hatte ihr Herz all die Jahre noch eine andere Sehnsucht mit sich herumgetragen, einfach eine verschüttete. Man kann sie Freiheit oder Entfesselung nennen, denn viele Menschen kennen gefühlte Notwendigkeiten, die den Weg mitbestimmen, ohne daran gleich leiden zu müssen. Viele Lebensbereiche waren abgeschlossen, die Ehe, die Kinder, nur neue Freundschaften nicht. Es war der Zeitpunkt schlechthin für etwas Neues, und über die Kraft zu neuen Ufern verfügte sie.

Einer hat mal gesagt, auf dem Jakobsweg von Saint-Jean-Pied-de-Port durch Nordspanien nach Santiago de Compostela habe man den eigenen Schatten beim Hinweg von Osten nach Westen noch vor sich, beim Rückweg dann in Richtung Sonnenaufgang lasse man ihn hinter sich. Ein wunderbares Bild, Schuler-Volken hing ihm nach.

Sie war 63 und wollte alles hinter sich lassen. Auch das Schamgefühl, gewisse Dinge im Leben nicht so hinbekommen zu haben. Das mag auch mit dem Gesellschaftsbild von aussen zu tun gehabt haben. Um es zu überwinden oder zumindest zu relativieren, musste sie sich zuerst mit dem inneren Bild auseinandersetzen, denn das äussere Bild entsteht oft auch in einem selbst. Das Bedürfnis nach Weitwandern hatte mit weglaufen nichts zu tun. Im Gegenteil.

Dann fing sie zu trainieren an. Sobald der Schnee weg war, lief sie los. Jede Woche auf Kühboden, das waren rund 1200 Höhenmeter, denn gleich auf der ersten Etappe auf dem Jakobsweg musste sie 1200 Höhenmeter bewältigen. Sie absolvierte den Stockalperweg zweimal hin und zurück, auch den Gommer Höhenweg natürlich, und sie überquerte den Albrunpass.

Am 4. Juli 2010 stand sie am Start, sie hatte in Spanien 800 Kilometer vor sich, dafür rechnete sie 32 Tage. Ihr Plan: sechs Tage laufen, einen Tag ruhen. Dann marschierte sie los und war so gut drauf, dass sie es gleich durchzog und vier Tage früher ankam als geplant. Seither bucht sie den Rückflug immer erst weniger als 100 Kilometer vor dem Ziel.

Inzwischen hat sie den Camino Francés ein zweites Mal gemacht, einmal arbeitete sie in Belorado als Hospitalera, als Betreuerin von Pilgerinnen und Pilgern. Sie wanderte den Camino del Norte der spanischen Nordküste entlang, ein anderes Mal von Porto aus nach Compostela, sie lief in Etappen vom Bodensee nach Genf, auch von Genf nach Le Puy-en-Velay in Frankreich (Via Gebennensis). Mittlerweile ist sie über die Jahre verteilt um die Schweiz gewandert.

Am meisten schwärmt sie hingegen von der Via de la Plata, die einen vom prächtigen Sevilla aus über 1200 Kilometer nach Santiago de Compostela in Galizien bringt. Und Schuler-Volken hat noch einen Traum: Den Weg von Gletsch nach Lyon hat sie bereits hinter sich, nun möchte sie noch von Lyon bis an die Rhonemündung laufen. Südlich von Arles verliert sich der Walliser Fluss in einem Delta im Nationalpark Camargue im Mittelmeer. Das muss auch noch sein.

Schamgefühle genommen

An den ersten Tagen war sie zu müde, doch irgendwann, in der aufkommenden Gelassenheit und Bescheidenheit, öffnete sich ihre Seele. Erst der Rückzug auf die Essenz, frei von allen Ablenkungen, Verpflichtungen und Versuchungen, liess einen tieferen Blick zu.

Es fiel ihr nach ein paar Tagen laufen beispielsweise auf, dass sie beim Tod ihrer Mutter gar nicht getrauert hatte, weil sie funktionieren musste. Dieser Gedanke beschäftigte sie eine Woche lang, Tag für Tag, und währenddem sie wanderte, drang sie Schicht für Schicht vor und arbeitete sich daran ab. Dann kam sie in der Extremadura an, dort, wo die Eichel fressenden Schweine herumlaufen, die den fantastischen iberischen Schinken hergeben. Sie sagt, gerade in jenen trostlos scheinenden trockenen Weiten erkenne man plötzlich die Einzelheiten.

Gut möglich, dass sich die Feinheiten einem Menschen vor allem im Nichts offenbaren, weil erst der offene, freie Raum so etwas zulässt.

Odile Schuler-Volken sagt heute, dass ihre Mutter von ihr mehr erwartet hätte. Sie glaube, ihr nicht immer genügt zu haben. Einmal hatte ihr die Mama gesagt, dass die Familie nun schon so viel Geld für ihre Ausbildung ausgegeben habe, und sie trete immer noch von einem ins nächste Fettnäpfchen. Mit der sich verändernden Wahrnehmung ordnete sich auch der Blick auf ihr Leben neu, Schuler-Volken lernte, dass alles relativ sei und man sich besser nicht so wichtig nehmen müsse.

In Spanien sollen junge Leute nach dem Jakobsweg bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben, denn die Bewältigung der 800 Kilometer zeuge von Wille, Disziplin, Fleiss und Ausdauer. Ob das wirklich stimmt, wissen wir nicht, aber dieser Gedanke tat Odile Schuler-Volken sehr gut. Erst auf ihrer Weitwanderung habe sie den Abschied von ihrer Mutter verarbeitet. Das Loslassen macht viele Menschen unsicherer, in erster Linie aber macht es leichter. So erging es Schuler-Volken.

Auf ihren Wegen sah sie Diktatfehler aus der Schulzeit und falsche Entscheidungen aus ihrem Leben. Das Wandern, so die Fiescherin, habe ihr auch die Schamgefühle genommen, zumindest zu einem grossen Teil. Sie nennt es «frisch gestrichen». Von jeder Fernwanderung gibt es mehrere Fotoalben und Tagebücher in den Regalen. Immer wieder kommen Leute auf Besuch, die sie unterwegs kennengelernt hat.

Am Wohntisch in Fiesch sitzt eine reife Frau, die robust und zugleich fragil wirkt, wach und zugleich nachdenklich zögernd. Sie ist offenherzig, sie erzählt alles und sagt nie, das dürfe man nicht schreiben. Machen Sie daraus, was Sie wollen, meint sie zum Abschied. Sie liebt die Verbindung Wandern und Geschichte und Kultur. Am Tag vor unserem Rendez-vous besuchte sie im Kunstmuseum Basel eine Ausstellung. Ihr eigentlicher Berufswunsch wäre Archäologin gewesen. Hat nicht funktioniert.

Sie reflektiert weiterhin viel und sie wird weiterhin fernwandern. Ihren zwei Söhnen hat sie jedenfalls bereits gesagt, dass die Mama im nächsten Mai einen Monat weg sein werde, bloss damit sie es wüssten wegen dem Enkelhüten.

Da sie den Weg von Fiesch nach Aosta bereits früher gemacht hat, wird sie in Aosta starten in Richtung italienische Hauptstadt.

Quelle: Pomona

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